Nordkanal

Le Grand Canal du Nord

Der Nordkanal von Helmut Haas

Nur wenige Male im Laufe der Jahrhunderte hat die Welt­geschichte unmittelbar auf die früheren Gemein­den Büttgen und Kaarst zugegriffen; eines dieser Ereig­­nisse aus der Zeit der staatsrechtlichen Zuge­hörig­keit unserer Region zu Frankreich hat bis heute seine deutlichen Spuren in der der neuen Stadt Kaarst und ihren Nachbarorten hinterlassen: der „Grand Canal du Nord“.

Was 1700 Jahre zuvor unter dem römischen Kaiser Claudius nur ein Gedankenspiel geblieben war, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts nach der französischen Besetzung des linken Rheinufers und erst recht nach der Eingliederung dieses Gebiets in den französischen Staat zur konkreten Planung der neuen Machthaber: eine Kanalverbindung vom Rhein zur Maas als Teilstück einer Wasserstraße zur Schelde und zum Hafen und Flottenstützpunkt Antwerpen. Von 1802 an prüfte die französische Bauverwaltung des Roer-Departements in Aachen vier denkbare Trassen für einen solchen Kanal, und schon im Juli 1803 ordnete Napoleon – damals noch „Erster Konsul“ der Französischen Republik – seinen Bau an. Das Vorhaben war ihm so wichtig, dass er bei einer Reise im September 1804 mehrere der vorgeschlagenen Trassen besichtigte. Die Idee eines Kanals wurde nach der vom nunmehrigen Kaiser Napoleon 1806 verhängten so genannten „Kontinentalsperre“ gegen England und ihrer Ausdehnung auf Holland dringender, und die zuständigen französischen Be­hör­den und Gremien entschieden sich jetzt für die wirtschaftlichste Trassenführung von Grimlinghausen an Neuss vorbei, durch das Krurtal zur Niers und durch das Niers- und das Nettetal über Herongen nach Venlo. Die Krur fiel dem Kanalbau völlig zum Opfer. Im Frühjahr 1808 wurden die ersten Bau­arbeiten ausgeschrieben, noch im selben Jahr wurden sie begonnen. Die Pläne des Bauwerks, zu dem etliche Schleusen, Wehre, Kanalwärterhäuser u.ä. gehören sollten, und viele Dokumente über den Gang der Arbeiten sind erhalten. Der Kanal sollte mit Last­kähnen bis zu 400 Tonnen Ladegewicht befahren werden können. Die Anlage sollte insgesamt 60 Meter breit werden – einschließlich der beiderseitigen Dämme mit den etwa 1,5 Meter über dem Wasser­spiegel angelegten Treidelpfaden. Im Bereich der Ge­meinden Büttgen und Schiefbahn führte die Kanal­trasse weitgehend durch Bruchgebiet, so dass der Grund­erwerb hier kaum Schwierigkeiten machte. Kaarster Flächen waren nicht berührt.

Die Verbin­dung zwischen den Orten auf beiden Seiten des Kanals sollte teils mit Zugbrücken, teils mit Fähren erfolgen; zwischen Büttgen und Kaarst war eine Ver­bindung als Fähre im Bereich der heutigen Gümpges­brücke geplant, eine weitere zwischen Büttgen und Schief­bahn. Schon 1810 entfiel das fran­zösische Inter­esse am Kanalbau, weil nach der Eingliederung der Nieder­lande in das Kaiserreich wieder der Rhein als Wasserweg zur Nordsee zur Verfügung stand. Die Bauarbeiten wurden 1810 eingestellt. Immerhin war der Kanal zu diesem Zeit­punkt vom Rhein bis Neersen schiffbar, und insoweit wurde er denn auch noch nach der Franzosenzeit unter preußischer Herr­schaft bis zum Jahre 1850 weiter genutzt, einige Jahre sogar zum Personen­verkehr von Neuss bis Neersen. Die für den Kanal­bau erworbene Fläche reichte auf dem Gebiet der Gemeinde Büttgen später aus, sowohl die Eisen­bahnstrecke von Neuss nach Viersen als auch die Reichsstraße (spätere Bundes­straße) aufzunehmen. Bedeutung erlangte der immer stärker von der Natur zurückeroberte Nord­kanal noch einmal in der Zeit um den Ersten Weltkrieg als Grundlage für die Melio­ration der Büttgener und Schief­bahner Bruch­gebiete, deren systematische Trocken­legung (mit der Entwäs­serung über den Nord­kanal) zum Gewinn von nutzbaren Landflächen in beiden Gemeinden führte.

Seit dem Zusammenschluss von Büttgen und Kaarst zu einer neuen Gemeinde liegt der Nord­kanal als Denkmal einer wichtigen gemeinsamen historischen Phase mitten in Kaarst. Als ehemalige Gemeindegrenze ist er so bedeutungslos wie viele andere Grenzen geworden. Nach meiner Überzeugung können ihn inzwischen die Kaarster aller Ortsteile (ungeachtet deren jeweiliger Identität) als ein gemeinsames Erbe ansehen.